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Alles auf Anfang

 

Für Adam und Eva war es eine klare Sache. Sie wurden vertrieben, ein Neuanfang, wenn man so will, den Apfel vom Baum der Erkenntnis im Gepäck, die eigene Blöße nur notdürftig bedeckt und eine Erinnerung im Kopf.

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Und wo beginnen wir heute, wenn wir an Paradiese denken?

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Der gepflegte Vorgarten unseres Hauses erfreut unser Auge beim Ein- und Ausgehen nur begrenzt. Beim Gang über das freie Feld wehen Autoabgase von der Straße herüber. Im Stadtpark finden wir zwischen Baumgruppe und Weiher ein wenig Entspannung. Eine Bergwanderung führt uns begeistert in luftige Höhen und belohnt uns mit einen Ausblick auf zersiedelte Täler. Das Fernsehen bietet uns bewegte Bilder von dahinschmelzenden Eisbergen in bizarrer Schönheit, zeigt uns die atemberaubende Weite verdorrender Steppenlandschaft oder stetig an den Strand rollende Wogen in Erwartung des nächsten Tsunami.

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Aber es gibt doch noch Urlaubsparadiese! Auf Hochglanzpapier gebannte Versprechungen: türkisblaue Lagunen von Palmen umrahmt und von Touristen bevölkert; Felspanoramen bequem von der Seilbahn aus zu betrachten; auf dem Mountainbike mit geballter Kraft und gesenktem Blick bergauf und bergab; luxuriös betreutes Fernweh an Deck eines Kreuzfahrtschiffes. Exotische Schönheiten versprechen Liebe zu bezahlbaren Preisen. Wer die Wahl hat, hat die Qual!

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Vielleicht sollten wir besser ins Museum gehen und Gemälde betrachten: Im Schatten ausladender Bäume stehen Kühe am Wasser und blicken gleichmütig vor sich hin. Ein Segelschiff reitet auf schaumbekrönten Wogen dem Horizont entgehen. Almhütten lagern auf grünen Matten unter einem Felsmassiv von der Abendsonne beleuchtet. Vielerlei Blumen erblühen hinter einem Lattenzaun zu einer Farbkomposition.

Zum Greifen nah glänzen formvollendete Äpfel und Birnen, Trauben und Kirschen auf einer Schale neben einem bedeutungsvoll funkelnden Glas Rotwein. Aber nur wenn wir das Rauschen des Windes in Bäumen kennen, wenn wir selbst Sonnenwärme gespürt haben und wissen, wie es in den Bergen oder am Meer riecht, wenn wir das Aroma der Früchte kennen, nur dann erfüllt sich beim Anblick der Gemälde für einen Augenblick unsere Sehnsucht nach dem Paradies.

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Ja, eine Ahnung von Paradies lebt in uns fort, lenkt unseren Blick auf die Wildkräuter am Wegrand, führt uns zu einer Bank im Schatten eines Baumes, lässt uns innehalten beim Anblick eines stillen Wassers. Wir kommen zur Ruhe, spüren Selbstgewissheit, öffnen die Tür zum Paradies einen Spalt weit. Eine flüchtige Erinnerung an unseren Ursprung weckt der tiefe Blick eines Hundes, ertasten wir im Fell einer schnurrenden Katze, hören wir im Brummton einer Hummel, erblicken wir im Flug der Schwalben am Himmel.

Eine vertraute Melodie ruft selbst Erlebtes wach. In einem Konzert überkommt uns pulsierende Lebensfreude. Jeder gelöschte Durst ist pure Lebenslust. Die Genesung von einer Krankheit stärkt unsere Kraft zu hoffen. Ein Trennungsschmerz rüttelt uns wach. Die Trauer um einen Verstorbenen weckt ihn zu einem Leben in der Erinnerung. Und in der Liebe lässt uns ein tiefer Blick oder die Berührung von Haut zu Haut an Geborgenheit glauben.

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All dies sind Augenblicke des Daseins, die wir erst kennen und zu schätzen wissen, seit wir vom verbotenen Apfel gekostet haben. Er ist wurmstichig geworden und hat doch sein köstliches Aroma bewahrt. Es ist diese Frucht vom Baum der Erkenntnis, die unser Begehren nach neuen Paradiesen nährt. Dies ist es, was uns zu vertrauten Stätten und durch fremde Gegenden treibt, uns Menschen hassen und lieben lässt, uns Höhenflüge und Abstürze beschert, unstillbar bleibt. Stets unterwegs zum Unerreichbaren machen wir zuweilen unser Glück.

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Natascha Würzbach

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